Make Me Run
Dai Finnigan - Druckversion

+- Make Me Run (https://makemerun.de)
+-- Forum: Auftakt (https://makemerun.de/forumdisplay.php?fid=1)
+--- Forum: Verzeichnis (https://makemerun.de/forumdisplay.php?fid=7)
+---- Forum: Steckbriefe (https://makemerun.de/forumdisplay.php?fid=48)
+---- Thema: Dai Finnigan (/showthread.php?tid=2158)



Dai Finnigan - Dai Finnigan - 18.04.2024

1970
Kinderarzt, schlägt er vor. Heim für verhaltensgestörte Kinder spricht er zumindest nicht laut aus. Mister Haworth klingt müde, entnervt. Ist ja nicht das erste mal, dass er sich die Finnigans wegen ihres Bengels zur Brust nehmen muss. Ob der Kinderarzt jetzt wirklich der richtige Anlaufpunkt für das verzogene Gör ist, dass das Eskalieren absolut jeder Aufregung nicht lassen kann, ist ihm dabei herzlich egal. Irgendwer muss doch mal was machen! Kann ja so nicht weitergehen: Mysteriöse Stolperfälle der Fänger, wenn der Junge beim Fangen mitspielt, explodierende Adventskerzen, wenn er für sein unleidliches Ausreißen aus der schönen englischen Sprache wieder mal den Riemen einsteckt, verschwindende Tinte, wenn Lehrer seine Briefchen im Unterricht einsammeln, das fußballgroße Loch in der Sporthallenwand vom Eifer des letzten Spiels. Wie er das immer wieder fertigbringt? Ist Haworth doch egal. Der Junge macht ihn fertig und es ist kaum auszuhalten wie er sich darüber mit seinen Freunden amüsiert, statt sich für seine Frechheiten zu Tode zu schämen - aber immerhin dem blöden Lachen kann er mit dem Riemen ein bisschen beikommen. Der Rest drumherum: Elternsache. Und natürlich versichern Mister und Misses Finnigan ihm, dass sie ihm ins Gewissen reden werden, dass sie ihn auch zum Kinderarzt bringen, vielleicht stimmt ja wirklich was mit dem Burschen nicht, natürlich lassen sie das abklären, ja ja ja- dabei ahnt er schon, dass sie es wieder nicht tun werden. Kein Wunder, dass das Balg so hoffnungslos ist. War seine Schwester nicht so ein liebes Kind? Was der Lehrer für grobe Erziehungspflichtverletzung hält, hat eigentlich einen ganz einfachen Hintergrund: Nicht, nur dass so ein Spaß Geld und Zeit kostet - was soll ein Muggelkinderarzt schon dagegen machen, dass die Magie nur so aus dem Jungen sprudelt wie aus einer geschüttelten Colaflasche? Sie zählen jetzt schon die Tage runter, bis er alt genug ist für Hogwarts und vermutlich tut Dai das auch. Viel anderes bleibt ihnen ohnehin nicht übrig - aber wenn sie ihm nochmal mehr Zurückhaltung einschärfen, geht's vielleicht zumindest eine Weile wieder. Merlins Unterhose, sie können doch hier nicht jedes Halbjahr aufschlagen! Manchmal ist sein Vater kurz davor, ihm einfach einen Stab in die Hand zu drücken: Damit der Junge mal ein vernünftiges Ventil bekommt. Nur: Wer sagt ihm denn, dass ihnen dann nicht direkt das ganze Heim um die Ohren fliegt? Nein, lieber doch nicht. Soll er sich lieber beim Schnitzen abreagieren oder beim Kartoffelschälen oder beim Besenflicken. Wie lange noch bis Hogwarts? Jeder Tag ist einer zu viel.

1975
Hey!! Dunkle Ringe und ganz, ganz kleine Äuglein, aber das Grinsen auf seinen Lippen verrät, dass er sich die Nacht nicht umsonst um die Ohren geschlagen hat. Dai angelt nach einer Tasse und platziert sie schwungvoll zwischen sich und seine Freunde. Guckt euch das an! Er zückt seinen Stab und tippt auf den Rand. (Und sieht doch genau wie sie in Deckung gehen, die feigen Socken!) Einmal, zweimal. Er malt Formen und Muster in die Luft und am Spruch dazu bricht er sich fast die Zunge. Aber: Die Tasse schimmert kurz, beinahe perlmuttfarben. Als er dampfenden Tee einschüttet, färbt sie sich tiefrot: Heiß. Glacius! murmelt er und tippt erneut dran. Und abkühlen tuts: Den Tee, die Tasse, die Eisschicht kriecht ganz ungeniert sogar bis auf die andere Seite des Tisches - und erntet, ob des plötzlich tiefgefrorenen Rühreis, unflätige Worte vom Gegenüber. Dai zieht kurz eine entschuldigende Miene, lässt sich aber nicht beirren und winkt mit der Tasse vorm Gesicht seiner Kumpel: Sie ist hellblau. Weil kalt, ist doch klar! Wie kommt's, dass du sowas hinkriegst, aber wenn du aus nem Käfer nen Knopf machen sollst, wird's ne Splitterbombe? Dai stöhnt theatralisch auf, sieht aber eher verletzt drein: Das ist doch sowas geniales, den Spruch hat er nichtmal aus ihren langweiligen Schulbüchern! Die Idee kam ihm überhaupt erst, nachdem er letzte Woche einem Drittklässler dabei zugeguckt hat wie er sich an etwas ähnlichem die Zähne ausgebissen hat. Ich finds cool nuschelt er trotzig zwischen zwei Bissen Toast mit fast fingerdicker Haselnusscreme. Apropos, kann ich nachher Verwandlung bei euch abschreiben? Er war ja schließlich die ganze Nacht mit Temperaturfarbwechsel-Üben beschäftigt, keine Zeit für so einen Kleinkram. (Außerdem hätten Gemeinschaftsraumknopfsplitterbomben für weitaus größere nächtliche Entrüstung gesorgt als sein angestrengtes Getüftel). Käfer in Knopf, wer braucht sowas schon! Nur, wenn du dann Verteidigung mit uns übst! Dai verzieht das Gesicht zu einem freudlosen Grinsen: In Verteidigung kriegt er immer bloß aufs Maul. Gern auch einfach von sich selbst. Oder Nachsitzen, wenn er doch mal die anderen erwischt, weil seine Sprüche genauso vielleicht ein bisschen zu heftig auszufallen neigen. Aber vor McGonagall hat er eben doch ein bisschen mehr Angst als vor eventuellen Blessuren, die im Gemeinschaftsbad sowieso keinen mehr überraschen. Also zuckt er, widerwillig wie er auch sein mag, mit den Schultern. Abgemacht. Und weil ihn seine Hauskameradin gegenüber immer noch so fies anguckt, taut er noch schnell den Tisch und den Aufschnittteller zwischen ihnen wieder auf. Und kokelt die Wurst gleich an. Ups.

1976
Mairwens Atem geht tief und gleichmäßig. Sie schnarcht ein bisschen, ist gerade erkältet. Sommergrippe, hat Granny dem Nesthäkchen gleich diagnostiziert. Dai soll bloß aufpassen, sich nicht anzustecken! Immerhin ist er gerade erst aus dem Internat eingetrudelt und hat nächsten Montag den ersten Arbeitstag: Da muss er doch fit sein. Er lässt es sich trotzdem nicht nehmen, auch für seine jüngste Schwester da zu sein. Wenn man sich denn schon endlich einmal wiedersieht! Das ganze Jahr gab es sonst nur Briefe nach Hause und zurück, Sprachbriefe von den Eltern, Schreibübungen von seinem Bruder, gemalte Bildchen von seiner Schwester. Merlin, er hat sie vermisst. Natürlich hätte er auch Spaß daran, seine Sommerferien nur mit ihnen zu verbringen, aber: Was seine ältere Schwester leistet, ist schon cool. Mit ihrer Ausbildungsstelle? Da ist er doch irgendwie neidisch! Außerdem machen die Hogsmeade-Besuche ohne nennenswertes Taschengeld auch nur halb so viel Spaß. Und überhaupt: Sein Vater sagt doch immer "Von Nichts kommt nichts" - wer Erfolg haben will im Leben, muss sich anstrengen. Und Dai strengt sich gerne an! Zumindest hat das Rumgebastel, für das er sich im Second Hand Laden der Winkelgasse beworben hat, kein so großes Explosionspotential wie die meisten Zauberhausaufgaben, an deren Übung er gerne mal verzweifelt. Mach doch einfach mal in Ruhe, raten ihm seine Lehrer gerne altklug und entnervt, konzentrier dich, reiß dich zusammen- Er kann es nicht mehr hören. Er mag es auch nicht recht aushalten, sich ständig zu bremsen - es ist wie Luftanhalten müssen, nur viel viel langweiliger; vielleicht ist es auch weniger Luftanhalten und mehr... Malbuch? - und dass er sich bei kniffligen Zaubern aus irgendwelchen staubigen Bibliotheksschinken ganz toll austoben kann, interessiert aber auch keinen. Kein Wunder, dass er lieber irgendwas mit Handarbeit macht, oder? Genau. Jetzt kann er es eigentlich kaum erwarten, endlich eigenes Können zu zeigen - und ein bisschen geldliche Freiheit zu genießen. Wie seine Eltern, Großeltern - und jetzt auch die große Schwester. Und dann schickt er Mairwen die Eismäuse, die sie immer so lustig findet und für seinen kleinen Bruder kauft er dann das hübsche Briefpapier. Und wenn er dann das nächste mal mit seinen Freunden in Hogsmeade ist, kann er auch endlich mal eine Runde Eisbecher übernehmen! Hauptsächlich aber wird er zuhause am Tisch mitreden können: Adieu "Was weißt du schon vom echte Leben?" und Ade "Verdien erstmal dein eigenes Geld, bevor du dich beschwerst"! Er träumt sich schon die große, fleißige Zukunft - und kann sich glücklich schätzen, nach den Sommerferien wieder auf Hogwarts festzusitzen: Die hitzigen, besorgten Diskussionen am Küchentisch, ob man ihm angesichts der winterlichen Anschläge in der Winkelgasse seinen Sommerschülerjob weiter erlauben kann, gehen so gänzlich an ihm vorbei. Bis zu den nächsten großen Ferien sind sie verdaut: So lange er seine Flohpulverration selbst bezahlt, soll er nur machen - es scheint ihm gut zu tun. So erwachsen wie beim letzten Besuch im Laden sieht man ihn sonst schließlich selten...

1978
Die Nacht mag kalt sein, aber ihm ist es nicht: Er muss noch nicht einmal den Mantel zumachen, so aufgeregt ist er. Wie lang hat er ihr jetzt schon schöne Augen gemacht? Hat ihr im Unterricht Zettelchen zugespielt, versucht, bei Teamaufgaben in ihre Arbeitsgruppe zu kommen, sich an Hogsmeade-Wochenenden bei ihr einzuklinken- stets mit ernüchterndem Erfolg. Kein Wunder: Selbst, nachdem sie vor einer Weile ihren Freund in den Wind geschossen hat, ist sie einfach nicht seine Liga. Sie ist clever und begabt - ihre Noten sind so viel besser als seine, ihre Mitarbeit im Unterricht auch, ihre Witze lustiger als sie sein sollten, wenn sie ihm zulächelt, grinst er zurück wie ein Vollidiot, und wenn er ehrlich ist, hat er sich manche Lernsitzung und Zauberübung am Nachmittag nur angetan, um, wenn schon nicht mithalten, dann doch um sie wenigstens ein bisschen beeindrucken zu können. Letzte Sommerferien hat der Laden, in dem er jobbt, ein paar Drachenfigürchen reinbekommen, die sich bewegen, fauchen, ein bisschen Funken husten. Das, welches Dai mitgenommen hat, ruht noch immer in den Untiefen seines Koffers, wartet auf ihren Geburtstag. Vielleicht kennen sie sich bis dahin gut genug, dass er sie ihr schenken kann, ohne, dass es zu seltsam, zu aufdringlich, zu viel wird. (Er weiß, dass er schnell zu viel wird: Zu eifrig, zu magisch, zu optimistisch-) (es ist schwer, nicht zu viel zu werden: Besonders, wenn sein Herz so laut für etwas schlägt wie jetzt mit ihr.) Gerade, als durchs Halbdunkel schleichen, ist er mehr als erleichtert, dass sie die Röte in seinen Wangen nicht sehen, sein Herzklopfen nicht hören kann. Er lacht und nickt und hört zu, platzt ab und an ein paar eigene Worte hervor, ein kleiner Witz, ein ungelenkes Kompliment, könnte das die ganze Nacht machen. Könnte auch schweigen, einfach nur ihre Hand halten (also- wenn er sich denn endlich mal trauen würde, ihre Hand auch zu nehmen), ein bisschen Sternegucken, den Käuzen im Wald zuhören... Da darf der nächste Morgen sich ruhig Zeit lassen. Wie viel Zeit sich der nächste Morgen auf Hogwarts wirklich lassen wird, kann Dai nicht wissen. Kann nicht wissen, was das für ein Licht ist, das da plötzlich zwischen den Bäumen zuckt und ihn rasch ein zweites mal gucken lässt. Ihn ablenkt, fesselt, mehr, als es ihre Hand je tun könnte. Er kann es rufen spüren. Wie die Sirenen, deren Stimmen der Küstenwind manchmal durchs Fenster trägt, wenn er seine Großeltern besucht. Wie die Geheimgänge im Schloss, von denen er nie recht versteht wie seine Freunde sie nicht einfach finden können egal wie gut er sie beschreibt. Das Licht und seine Einladung liegen so auf der Hand, so offensichtlich, so leicht. Irrlicht flüstert etwas in ihm, vielleicht die entfernte Erinnerung an mahnende Märchen, die sein Vater ihm früher erzählt hat - aber es ist zu leise und zu spät und das Licht- das Licht alles andere als mahnend. Eigentlich ist das Licht und sein Tanz und sein Ruf und die handvoll Schritte dorthin- alles, was bleibt. Wo waren sie noch gleich?

????
Er weiß nicht, was es ist. Vielleicht hat der Wind einen altvertrauten Geruch hereingetragen, vielleicht ist in einer anderen Welt gerade ein Tag, den er im Kalender anstreichen würde, vielleicht war er einfach zu lange unbeschwert und die Wehmut bricht sich letztendlich doch wieder Bahn. Aber eines Morgens wacht er auf und spürt das Brennen in den Augen, den Kloß im Hals, den Seufzer in der Brust. Er schleicht sich nach draußen, ohne sie neben sich zu wecken. Die Vögel lärmen bereits, die Baumkronen rauschen gemütlich und selbst der Bachlauf scheint die neuen Sonnenstrahlen zu genießen. Es ist ein guter Tag, endlich Frühling, und es gibt viel zu tun. Heute geht es ihm stockend von der Hand, sein Kopf ganz woanders. Er schafft es trotzdem, das Dach ihrer dilettantisch geschusterten Hütte zu richten (auch, wenn er mehrere Anläufe braucht, seine Freundin ist sicherlich längst wach) - ohne irgendetwas in die Luft zu jagen, in Brand zu setzen oder in Froschregen zu verwandeln. Eigentlich ist es hier gar nicht so schlimm - wo auch immer hier ist. Und würde er nicht ab und an mit der tonnenschweren Gewissheit aufwachen, dass Hier jetzt Zuhause ist und Zuhause unweigerlich verloren, seine Freunde, Familie, Schulzeit, Zukunft- würde ihn dieses Wissen nicht ab und an versuchen zu ersticken, wäre das hier wundervoll. Aber was vor einigen Monaten- oder Wochen? Jahren? wer weiß das schon; Zeit ist hier so launisch wie das Wetter und die Gestalten auf der anderen Seite des Flusses, vor denen sie sich bis auf notwendigste Kontakte und Handel zu hüten versuchen - noch ein Abenteuer war ist jetzt... anders. Echt. Es hat seinen Glanz und seine Aufregung verloren, die Vorfreude wie die Panik. Das hier ist jetzt eben einfach ihr neues Leben. Eines, in dem es keine Eltern und Freunde gibt, keine Schule, kein Geld, keine Bewerbungen. Es gibt keine Vergangenheit und weiß der Henker, ob es eine Zukunft gibt. Aber es gibt das Hier und Heute und Jetzt. Es gibt das Mädchen, das er liebt, Wald und Wiesen voller Leben und alle Ruhe der Welt, sich doch noch mit seiner Magie anzufreunden und seinen Händen doch immer genug zu tun zu geben. Ruhe, die ihn immer seltener um den Verstand zu bringen droht. Es ist nicht schlimm, nur manchmal. In der Tat wächst er um die Fremde wie ein Baum um einen Zaun. Ein Splitter im Fleisch, der schon zu lange verweilt, um je gezogen werden zu können. Er vermisst das Radio und eine Kamera, vermisst, sein Leben mit Leuten zu teilen. Da ist nur sie - ist sie nicht genug? Meistens ist sie es. Sind es sie beide. Er bringt ihr bei zu fischen (Nana und Grandad und endlose Sommer an der irischen Küste seien Dank) und sie zeigt ihm, wie man die Magie zähmt wie ein wildes Tier. Ihr Haar duftet nach Blumenkränzen, in der faulen Nachmittagssonne geflochten, und seine Stoppeln werden langsam zu einem richtigen Bart. Aus Fremde wird Zuhause, die Erinnerungen schnell und schneller verblassend, verhallend. Aus Kindern, Jugendlichen, werden Erwachsene - und irgendwann Eltern. Dai hält den Zwerg im Arm, seine müden Augen nur mühsam offengehalten: Irgendjemand muss auf sie aufpassen, ihre angeschlagene Gesundheit und sein junges Leben, nicht wahr? Und wenn er ihnen nur eines versprechen kann, soll es das sein: Besser auf sie aufzupassen als es seine alte Welt geschafft hat.

???? - 1978
Seine Hände sind kalt und etwas klamm, ihm ist zu warm, obwohl der Morgen angenehm ist. Das blutjunge Mondgesichtchen, das aus wachen Äuglein zu ihm heraufschielt, bekommt trotzdem ein grinsendes Gurren, ein sanftes Lächeln. Er ist etwas steif mit der Kleinen, doch heute liegt es nicht mehr daran, dass sie so nach ihrer Mutter und ihrem Vater schlägt - und dabei ganz und gar nicht nach Dai. Er hält sie trotzdem fest und warm, sicher in seinen Armen. Er hat Angst, aber lieber würde er sich die Zunge abbeißen, als seine Miene etwas verraten zu lassen. (Nicht, dass es seine Partnerin nicht ohnehin spürt - weil sie ihn kennt, weil er für sie in jedem Sinne ein offenes Buch ist. Vor ihr könnte er nichts verheimlichen, wenn er wollte - aber warum sollte er wollen?) Das letzte, was sie heute brauchen, ist ein gestresstes Baby, einen panischen älteren Bruder oder eine von Sorgen zerfressene Jugendliche. Immerhin die älteren beiden kommen etwas nach ihm - Dai ist immer noch nicht sicher, was er erzählen wollen wird, wenn die Fragen kommen. Falls sie kommen: Er wüsste nicht, was schlimmer ist. Zurück zu kehren und niemanden mehr vorzufinden, der auf sie warten könnte - oder jedem mit angehaltenem Atem und einem großen Loch im Herzen zu begegnen. Nur ungern will er sein Herz offenbaren. Ein Herz längst ohne Loch: Zu lange ist es her, zu unklar die Erinnerung, verblasst und eingerostet das Gefühl des Vermissens. Rost, den der kommende Schritt schon seit Planungsbeginn langsam aber sicher absprengt, jeden Tag ein wenig mehr. Wenn er zu lange darüber nachdenkt - was er verpasst hat, was ihn erwartet, dass sich das nicht mehr Vermissen und sein eigenes Leben anfühlt wie Hochverrat - dann bekommt er keine Luft mehr, wird doch noch weinen. Und das geht auf keinen Fall. Den Schritt, in den sie vor so langer Zeit zu zweit regelrecht hineingestolpert sind, gehen sie heute zurück. Zu viert. Wissentlich, willentlich, absichtlich - gemeinschaftlich. "Das wird aufregend," verspricht er dem Jungen an seiner Seite, drückt ihm einen Kuss aufs Haar, während seine Jüngste ihre Fingerchen in seinem vergräbt, "freust du dich schon?" Der Kleine nickt, glaubt noch an das Abenteuer dahinter. Dai hofft, dass seine Große ihn nicht bei der Lüge ertappt, während sie sich aus der Umarmung mit ihrer Mutter schält. Ihr Anker. Ihm wird schlecht bei dem Gedanken, sie zurück zu lassen. Imbolc, Cétsamuin, Calan Awst, Calan Gaeaf - er wiederholt die Daten still. Daten, an denen sie sich sehen können, ganz bestimmt. Wenn der Schleier schon zwei mal für sie reißt, warum nicht wieder und wieder? So zumindest die Hoffnung: Aber wer weiß das schon? Immerhin reißen sie sie nicht aus ihrer Heimat, sagt er sich, sie hat ja sogar selbst darum gebeten, zu bleiben. Ein kleiner Trost für das besorgte Vaterherz. Er drückt das Bündel im Arm an seine Brust. Das Zeugnis allen Übels. Ihr bleiches Haar, ihre hellen Augen: Manchmal meint er, die fremden Züge in ihrem Gesicht zu ertappen. Aber sie ist die Tochter seiner Partnerin - und so lange sie bei ihm ist, ist sie auch seine. Und für sie müssen sie gehen. Müssen gehen, bevor der tatsächliche Mann in ihrem Blut Ansprüche geltend macht. Müssen die Fremde verlassen, die sie sich zu eigen gemacht haben - in ein Zuhause, das längst zur Fremde geworden sein muss. Natürlich hat er Angst. Natürlich bebt er und schwitzt, natürlich ist das Grinsen auf seinen Lippen steif, als er seine Älteste ein letztes mal umarmt, seine Augen feucht. Er erinnert sie mit brüchiger Stimme an Vollmonde und Wegkreuzungen, an Hexensteine und Eschenzweige. Und an ihre Zeiten: Imbolc, Cétsamuin, Calan Awst, Nos Calan Gaeaf. Er drängt sich an seine Partnerin, die ihm eines der Kinder von der Hand nimmt, sucht den Halt in ihren Augen. Es ist die richtige Entscheidung. Sie kriegen das zusammen hin. Wenn sie es als Teenager schaffen konnten - warum nicht auch jetzt als Eltern? Sie werden ihren Kindern die allerbeste, allerfreiste Zukunft bieten. Sie werden schon sehen. "Na dann," sagt er und atmet beherrscht durch, lässt den Blick in letztes mal über ihre Welt schweifen, bevor er wieder auf seiner kleinen Familie zu ruhen kommt. "Bereit?"

1978
Es ist alles nur ein bisschen viel, sagt er. Nicht, dass jemand groß gefragt hätte. Die einzigen, die fragen, sind die Heiler und die hängen ihm zum Hals raus - sie tun so als wäre er noch immer 16 (und wenn schon?), als würden sie den Bart in seinem Gesicht nicht sehen und seine Eltern erwachsener sein als er es ist (und wenn schon!). Außerdem wollen sie gar nicht hören wie es ihm eigentlich geht, sondern höchstens wie die Tränke oder Zauber anschlagen, die sie ihm antun. Sprüche, um herauszufinden, wo der Teenager steckt, der er war und Tinkturen, die ihn zum Vorschein bringen sollen oder zumindest irgendetwas über seinen Zwischenstopp offenbaren. Offenbarungen, die ihm nicht mal sein eigener Kopf gewährt, jede Erinnerung blank. The body keeps the score und ist damit auch der einzige: Er merkt es daran wie schnell ihm der Kopf zu platzen droht, wenn die ganzen Leute um ihn herumwuseln und das Stadtgetöse seine Zündschnur kürzt. Wenn er mit seiner kleinen Schwester im Garten sitzt und sie ihn an irgendjemanden erinnert, den er nicht benennen kann, während sie Blümchen zu Kränzen flechten, die er nie gelernt hat. Hogwarts ist nicht nur in weiter Ferne, weil er wieder in Wales sitzt. Zuhause sagen Eltern, die ihm kaum ins Gesicht sehen können und ihn nur ungern mit seinen eigenen kleinen Geschwistern allein lassen, während seine Großeltern hinter verschlossenen Türen mit den Heilern darüber zu sprechen versuchen, wie viele Fälle erwachsener Wechselbälger es in den Aufzeichnungen schon gab. Zuhause fühlt er eigentlich nur so richtig, wenn er daran denkt, seine Klassenkameradin im Hospital zu besuchen, weil sie noch nicht entlassen werden darf. Kann. Will, was weiß er schon. Er würde wieder nach ihrer Hand greifen wie er es das letzte mal getan hat, als sie noch zusammen einsaßen, und sich zu ihr setzen als wäre es das natürlichste der Welt. Dabei ist alles, was sie zusammenschweißt- ein schiefgelaufenes Date vor ein paar Tagen und eine ganz, ganz große Erinnerungslücke. Selbst, dass er sich in seiner Haut trotz allem richtig fühlt, trennt sie, scheint sie doch immer noch zu hoffen, dass irgendwo tief in ihrer Brust wirklich noch eine 16 Jährige gerettet werden kann. Dennoch verbindet sie zwei immer noch mehr als mit sonst allen anderen. Glaubt er zumindest, hofft er: Noch hat er die Zeit und die Freiheit nicht gefunden, sie nach seiner Entlassung wieder aufzusuchen, zu horchen, wie es ihr nun geht. Nicht einmal das hat man ihm gegönnt. Irgendwas muss man ja jetzt aber aus ihrer Situation machen, findet Dai - auch als einziger wohlgemerkt. Während die Heiler ihn gerne noch viel länger und öfter untersuchen und für diverse Diagnose- und Veränderungsexperimente einbestellen würden, seine Familie betrauert, wer er nicht mehr ist, versucht er wenigstens, den Boden unter seinen Füßen zu finden. Und natürlich auszuprobieren, wo seine neuen Grenzen liegen! Den Schülerjob in der Winkelgasse zumindest Teilzeit als "richtigen Job" aufnehmen? Klaro! Auch abends noch in aller Ruhe durch die Stadt streunern? Gar kein Problem. Die Kündigung an seine alte Schule schicken, weil sie ihn als "alten Mann" sowieso gerade nicht zurück wollen und er sich lieber einen Arm ausreißen als darauf warten oder gar hoffen würde, wieder Kind zu sein? ... auch das. Alles ganz vernünftige Erwachsenenschritte? Naja. Aber zumindest sind es seine, ganz eigenen, Schritte! Wie sich das eben für jemanden gehört, der offensichtlich nicht mehr Kind ist! Was die Zukunft stattdessen bringt? Ach, weiß er doch auch nicht. Weiß ja nicht einmal, was die Vergangenheit gebracht hat! Weiß nicht, was eigentlich anders ist, anders als früher, anders als gewohnt - weiß nicht, ob welches Anders auch wirklich schlimm ist. Weiß eigentlich gar nichts. Nur: So, wie es war ist es nicht mehr. Kann es nicht mehr sein. Auch, wenn ihm das Herz dabei bricht, wenn er zu lange darüber nachdenkt.