Dai Finnigan
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i am disappearedMensch, für dein Alter siehst du ganz schön... alt aus. Was bei anderen für einen rasch abgesetzten Kotzfluch sorgen könnte, lässt Dai nur ein bisschen gequält grinsen. Stimmt ja auch irgendwie: Für Jahrgang 1962 sieht er mit seinen 36 Jahren tatsächlich bemerkenswert alt aus. Hängt sicher damit zusammen, dass der sonst so zuversichtliche Hufflepuff im Oktober mit einer Klassenkameradin Schlagzeilen gemacht hat, als sie ganz unvermittelt von einem heimlichen Date im Verbotenen Wald verschwunden sind - und elf Tage später genauso unvermittelt wieder auftauchten. Nur eben: deutlich gealtert. Wo sie waren, was passiert ist, wissen sie beide nicht. Während Dai mit seiner Erinnerungslücke kämpft und die Heiler ihn auf der Suche nach Erklärungen immer wieder unter die Lupe nehmen, hat er sich irgendwie mit seinem neugewonnenen Erwachsenendasein angefreundet. Dass trotzdem immer wieder sein Kindskopf durchkommt, er die Welt mit ein bisschen zu viel Optimismus, Aberglaube und Kurzsichtigkeit erstürmt: Geschenkt. Wer hat sein Leben schon perfekt im Griff? Aber als trotz - oder: wegen! - hohen Magiepotentials ungelenker Zauberer, der seine mittelmäßige Schullaufbahn dank aktueller Entwicklungen nach den ZAGs abgebrochen hat, als walisisches Arbeiterkind und muggelnahes Halbblut, das sich gerade ohne konkrete Ausbildungs- oder Berufspläne im Second Hand Kramladen verdingt - da kann Dai kaum groß punkten. Dabei steckt in ihm noch so viel mehr: Ein Handwerker, Tierfreund und Kräuterkenner, ein loyaler, bodenständiger Kerl, zwanzig Jahre Lebenserfahrung einer anderen Welt - und ein vergebener Familienvater. Da kann man nur hoffen, dass das Leben bald mit seinen Erinnerungen herausrückt - und zwar nicht nur seinetwegen...
Wusstest du, dass...
Jeder weiß, dass...
Freunde und Familie wissen, dass...
Wusstest du, dass...
Zivilist Zivilisten: Die, um die es geht in dieser ganzen Kriegskrise. Die Macht der Masse kennt Dai aus den Gewerkschaftsberichten seiner Familie, weshalb er sich als Zivilist im Krieg nicht gerade unterschätzt. Wären sie tatsächlich so nebensächlich, würden An- und Übergriffe auf Zivilisten nicht immer wieder vorkommen. Nur: Bei allem Idealismus kennt er aber auch die Zeitungsberichte, die nur zu deutlich zeigen wie hilflos ausgeliefert man als einfacher Bürger ist. Und natürlich hat Dai als kürzlich noch Schüler bisher genau zu denen gehört: Sich jetzt als neulich Erwachsener in einer Position wiederzufinden, in der man tatsächlich etwas tun könnte, ist natürlich nobel - sich da aber mit Übereifer hineinzustürzen wäre nichts anderes als einfältig. Ob er weitsichtig genug ist, sich davon bremsen zu lassen?
Familie Großeltern mütterlicherseits Bezug zur Umwelt Dai ist in seiner Weltanschauung nicht sonderlich komplex gestrickt, hat noch viel zu lernen, ist dafür von einer gehörigen Portion Sozialbewusstsein geprägt: Nicht Magie ist Macht - Miteinander ist es! Dass Reinblutideologie Blödsinn ist, versteht sich da wohl von selbst: So selbstverständlich, dass seine Familie die Reichweite und Gewalt ihrer politischen Vertreter anfangs völlig unterschätzt hat und irgendwie auch von der Wucht, mit der sich der Konflikt Bahn bricht, überrascht wurde. Dass der Kontakt zu Muggeln nicht den Untergang der Zauberwelt einläutet, beweisen sie und so viele andere eigentlich seit Generationen tagtäglich, und dafür, dass magisches Blut und gehöriges Potential nicht automatisch mit Zauberkunst und -können gleichzusetzen ist, ist Dai selbst wandelnder Beweis. Mit welcher Vehemenz die schwarzmagische Todesserbewegung das Gegenteil vertritt, hat sich heute auch in Dais Bewusstsein gedrängt, wenn auch noch nicht sonderlich lange. Seine Reaktion darauf ist von jugendlicher Hilflosigkeit und Kriegsangst geprägt, aber auch von angemessener Entrüstung und Verachtung. Das Familienhaus im alten Kohlegebiet, in dem er groß geworden ist, ist in die Jahre und mit den Jahren heruntergekommen. Dabei hat, mehr noch als die vielen Generationen, der wirtschaftliche Abstieg der Region seine Spuren an den Wänden hinterlassen. Dais Zuhause ist trotz Hof und einem liebevoll (allerdings zeitmangelbedingt nur unzuverlässig) gepflegten Garten vielleicht auch ein bisschen zu klein für die mütterlichen Großeltern, Mum und Dad und fünf Kinder. Die Uhren ticken etwas langsamer hier und gerade die alten Nachbarn sprechen noch lieber Walisisch als Englisch, meistens mehr Muggel unter ihnen denn Zauberer. Die Schrecken des Krieges scheinen hier täuschend fern und die größeren Sorgen bereitet den Anwohnern, dass nach langem Rückgang auch die letzten Mienen der Gegend dichtgemacht haben, sodass es nun für Arbeitsstellen und größere Einkäufe in die stärkeren Städte der Umgebung zu pendeln gilt. Immerhin hier zahlt sich die Magie aus und macht das Leben nicht nur mit Flohpulver und Apparierschein, sondern auch Verwandlungs- und Zauberkunstsprüchen weitaus einfacher. Seit einer Weile kommen seine vier Wände Dai allerdings sehr erdrückend vor: Er vermisst nach seiner Hogwartszeit die schottischen Hochlande, entschuldigt er seine Melancholie, ihre Weiten und Wälder und den klaren Himmel. Dass es nicht Schottland ist, was ihm fehlt, weiß er selbst, aber was es stattdessen sein soll, kann Dai auch nicht benennen. Und egal wie weit er in guten Nächten sehen kann: Die Sterne scheinen ihm beinahe fremd und er weiß nicht, auf welchen Geruch er im Nachtwind hofft, aber der, der herbeiweht, ist nicht mehr der, der sich nach Zuhause anfühlt. Namensbedeutung Keltisch. Die mütterlich walisischen Wurzeln bluten ebenso aus dem Vornamen mit der schönen Bedeutung "geliebt" wie es die väterlich irischen aus dem Nachnamen ("gesegnet") tun - und wer beides verpasst, dem wird spätestens bei Dais Zungenschlag ein Licht aufgehen. Mehr von seiner treorchy'schen Heimat in Wales geprägt als den Großelternbesuchen im irischen Munster, gereicht letztendlich weder das eine noch das andere zu seinem Vorteil: In England hat man weder hierfür noch dafür großen Respekt übrig. Deshalb ist er zwar keinen Deut weniger stolz auf seine Heimat, aber es wäre gelogen zu behaupten, dass er nicht versucht, seinen Akzent zu verschlucken, außerhalb der finnigan'schen vier Wände keine Silbe Walisisch verlauten lässt - und anfangs auf Hogwarts noch versucht hat, sich als Patrick ("Adelsmann" in der Bedeutung und ein uralt vererbter Zweitname) zu etablieren. Erfolglos, wohlgemerkt, und zum Tadel seiner Familie: In einem Namen liegt schließlich Macht, und die gilt es, nicht fahrlässig durchs Herausposaunen jeder Silbe in öffentliche Hände zu legen. Ob ihn das vor seinem Schicksal hätte bewahren können? Wirkung auf andere Dai ist ein auffällig hochgeschlagener Mann, dessen Alter man nicht mehr wirklich als "jung" bezeichnen möchte. Mitte, Ende Dreißig ist er gezeichnet von ersten grauen Härchen an den Schläfen (die er manchmal im Spiegel viel zu kritisch beäugt) und klaren, aufgeweckten Augen, die viel gesehen haben. Er ist bodenständig, doch alles andere als zaghaft und sie lassen ihn älter wirken als sein Verhalten es in letzter Zeit tut, das manchmal noch für sein Alter uncharakteristisch optimistisch, zukunftsgläubig, leichtfällig ausfällt. Manchmal bewegt er sich so staksig und übermütig als wäre er noch mitten in der Pubertät und wüsste seine neue Größe und Kraft noch nicht recht zu dosieren. Besonders breitschultrig wirkt Dai dabei nicht, aber immerhin ist er aus der Schlacksigkeit seiner Jugend herausgewachsen. Der stoppelige Bart, das lockende, notdürftig sortierte und widerwillig mittelkurzgehaltene Haar - er hält sein Gesicht gerne für verwegen, in er Tat spricht es eher von selbstsicherer Bequemlichkeit. Auch sein Kleidungsstil will ihm nicht ganz liegen, schwankt irgendwo zwischen schlicht, altbacken, ausgefallen, und wer sich ein bisschen auskennt, wird schnell erkennen, dass seine Sachen, oft weitergereichte Stücke von Familie oder Freunden, fast allesamt per Hand und Haushaltszauber angepasst wurden, was vielleicht die mangelnde Stileinheit entschuldigt. Dass er längst eigentlich reif ist für eine Brille und seine Fernsicht nachgelassen hat, gelingt ihm nicht immer zu verstecken, zusammengekniffene Augen lassen grüßen, aber ob ihn Eitelkeit oder Kosten davon abhalten, eine mit sich zu tragen, sei dahingestellt. Was ihm an sortiertem Äußeren fehlt, macht Dais engagierte Art allerdings wett. Es fällt leicht, mit ihm ins Gespräch zu kommen: Dai leiht gerne ein Ohr, noch lieber aber seine Hände, Begeisterungsfähigkeit und Mitgefühl leicht zu wecken - vielleicht sogar etwas zu sehr, zu voreilig, zu rigoros, aber immerhin ganz ohne dabei fahrig, unruhig oder zerstreut zu wirken. Jemand, der stets eine Richtung, Inspiration und Elan genug vor Augen zu haben scheint und weder scheut noch sich zu fein ist, den Weg auch zu gehen. Und wenn sein Blick so gewinnend blitzt und er mit festem Händedruck einschlägt, wird man doch glatt neugierig, wo sein Weg ihn noch entlang führen wird! Persönliche Geschichte 1970 Kinderarzt, schlägt er vor. Heim für verhaltensgestörte Kinder spricht er zumindest nicht laut aus. Mister Haworth klingt müde, entnervt. Ist ja nicht das erste mal, dass er sich die Finnigans wegen ihres Bengels zur Brust nehmen muss. Ob der Kinderarzt jetzt wirklich der richtige Anlaufpunkt für das verzogene Gör ist, dass das Eskalieren absolut jeder Aufregung nicht lassen kann, ist ihm dabei herzlich egal. Irgendwer muss doch mal was machen! Kann ja so nicht weitergehen: Mysteriöse Stolperfälle der Fänger, wenn der Junge beim Fangen mitspielt, explodierende Adventskerzen, wenn er für sein unleidliches Ausreißen aus der schönen englischen Sprache wieder mal den Riemen einsteckt, verschwindende Tinte, wenn Lehrer seine Briefchen im Unterricht einsammeln, das fußballgroße Loch in der Sporthallenwand vom Eifer des letzten Spiels. Wie er das immer wieder fertigbringt? Ist Haworth doch egal. Der Junge macht ihn fertig und es ist kaum auszuhalten wie er sich darüber mit seinen Freunden amüsiert, statt sich für seine Frechheiten zu Tode zu schämen - aber immerhin dem blöden Lachen kann er mit dem Riemen ein bisschen beikommen. Der Rest drumherum: Elternsache. Und natürlich versichern Mister und Misses Finnigan ihm, dass sie ihm ins Gewissen reden werden, dass sie ihn auch zum Kinderarzt bringen, vielleicht stimmt ja wirklich was mit dem Burschen nicht, natürlich lassen sie das abklären, ja ja ja- dabei ahnt er schon, dass sie es wieder nicht tun werden. Kein Wunder, dass das Balg so hoffnungslos ist. War seine Schwester nicht so ein liebes Kind? Was der Lehrer für grobe Erziehungspflichtverletzung hält, hat eigentlich einen ganz einfachen Hintergrund: Nicht, nur dass so ein Spaß Geld und Zeit kostet - was soll ein Muggelkinderarzt schon dagegen machen, dass die Magie nur so aus dem Jungen sprudelt wie aus einer geschüttelten Colaflasche? Sie zählen jetzt schon die Tage runter, bis er alt genug ist für Hogwarts und vermutlich tut Dai das auch. Viel anderes bleibt ihnen ohnehin nicht übrig - aber wenn sie ihm nochmal mehr Zurückhaltung einschärfen, geht's vielleicht zumindest eine Weile wieder. Merlins Unterhose, sie können doch hier nicht jedes Halbjahr aufschlagen! Manchmal ist sein Vater kurz davor, ihm einfach einen Stab in die Hand zu drücken: Damit der Junge mal ein vernünftiges Ventil bekommt. Nur: Wer sagt ihm denn, dass ihnen dann nicht direkt das ganze Heim um die Ohren fliegt? Nein, lieber doch nicht. Soll er sich lieber beim Schnitzen abreagieren oder beim Kartoffelschälen oder beim Besenflicken. Wie lange noch bis Hogwarts? Jeder Tag ist einer zu viel. 1975 Hey!! Dunkle Ringe und ganz, ganz kleine Äuglein, aber das Grinsen auf seinen Lippen verrät, dass er sich die Nacht nicht umsonst um die Ohren geschlagen hat. Dai angelt nach einer Tasse und platziert sie schwungvoll zwischen sich und seine Freunde. Guckt euch das an! Er zückt seinen Stab und tippt auf den Rand. (Und sieht doch genau wie sie in Deckung gehen, die feigen Socken!) Einmal, zweimal. Er malt Formen und Muster in die Luft und am Spruch dazu bricht er sich fast die Zunge. Aber: Die Tasse schimmert kurz, beinahe perlmuttfarben. Als er dampfenden Tee einschüttet, färbt sie sich tiefrot: Heiß. Glacius! murmelt er und tippt erneut dran. Und abkühlen tuts: Den Tee, die Tasse, die Eisschicht kriecht ganz ungeniert sogar bis auf die andere Seite des Tisches - und erntet, ob des plötzlich tiefgefrorenen Rühreis, unflätige Worte vom Gegenüber. Dai zieht kurz eine entschuldigende Miene, lässt sich aber nicht beirren und winkt mit der Tasse vorm Gesicht seiner Kumpel: Sie ist hellblau. Weil kalt, ist doch klar! Wie kommt's, dass du sowas hinkriegst, aber wenn du aus nem Käfer nen Knopf machen sollst, wird's ne Splitterbombe? Dai stöhnt theatralisch auf, sieht aber eher verletzt drein: Das ist doch sowas geniales, den Spruch hat er nichtmal aus ihren langweiligen Schulbüchern! Die Idee kam ihm überhaupt erst, nachdem er letzte Woche einem Drittklässler dabei zugeguckt hat wie er sich an etwas ähnlichem die Zähne ausgebissen hat. Ich finds cool nuschelt er trotzig zwischen zwei Bissen Toast mit fast fingerdicker Haselnusscreme. Apropos, kann ich nachher Verwandlung bei euch abschreiben? Er war ja schließlich die ganze Nacht mit Temperaturfarbwechsel-Üben beschäftigt, keine Zeit für so einen Kleinkram. (Außerdem hätten Gemeinschaftsraumknopfsplitterbomben für weitaus größere nächtliche Entrüstung gesorgt als sein angestrengtes Getüftel). Käfer in Knopf, wer braucht sowas schon! Nur, wenn du dann Verteidigung mit uns übst! Dai verzieht das Gesicht zu einem freudlosen Grinsen: In Verteidigung kriegt er immer bloß aufs Maul. Gern auch einfach von sich selbst. Oder Nachsitzen, wenn er doch mal die anderen erwischt, weil seine Sprüche genauso vielleicht ein bisschen zu heftig auszufallen neigen. Aber vor McGonagall hat er eben doch ein bisschen mehr Angst als vor eventuellen Blessuren, die im Gemeinschaftsbad sowieso keinen mehr überraschen. Also zuckt er, widerwillig wie er auch sein mag, mit den Schultern. Abgemacht. Und weil ihn seine Hauskameradin gegenüber immer noch so fies anguckt, taut er noch schnell den Tisch und den Aufschnittteller zwischen ihnen wieder auf. Und kokelt die Wurst gleich an. Ups. 1976 Mairwens Atem geht tief und gleichmäßig. Sie schnarcht ein bisschen, ist gerade erkältet. Sommergrippe, hat Granny dem Nesthäkchen gleich diagnostiziert. Dai soll bloß aufpassen, sich nicht anzustecken! Immerhin ist er gerade erst aus dem Internat eingetrudelt und hat nächsten Montag den ersten Arbeitstag: Da muss er doch fit sein. Er lässt es sich trotzdem nicht nehmen, auch für seine jüngste Schwester da zu sein. Wenn man sich denn schon endlich einmal wiedersieht! Das ganze Jahr gab es sonst nur Briefe nach Hause und zurück, Sprachbriefe von den Eltern, Schreibübungen von seinem Bruder, gemalte Bildchen von seiner Schwester. Merlin, er hat sie vermisst. Natürlich hätte er auch Spaß daran, seine Sommerferien nur mit ihnen zu verbringen, aber: Was seine ältere Schwester leistet, ist schon cool. Mit ihrer Ausbildungsstelle? Da ist er doch irgendwie neidisch! Außerdem machen die Hogsmeade-Besuche ohne nennenswertes Taschengeld auch nur halb so viel Spaß. Und überhaupt: Sein Vater sagt doch immer "Von Nichts kommt nichts" - wer Erfolg haben will im Leben, muss sich anstrengen. Und Dai strengt sich gerne an! Zumindest hat das Rumgebastel, für das er sich im Second Hand Laden der Winkelgasse beworben hat, kein so großes Explosionspotential wie die meisten Zauberhausaufgaben, an deren Übung er gerne mal verzweifelt. Mach doch einfach mal in Ruhe, raten ihm seine Lehrer gerne altklug und entnervt, konzentrier dich, reiß dich zusammen- Er kann es nicht mehr hören. Er mag es auch nicht recht aushalten, sich ständig zu bremsen - es ist wie Luftanhalten müssen, nur viel viel langweiliger; vielleicht ist es auch weniger Luftanhalten und mehr... Malbuch? - und dass er sich bei kniffligen Zaubern aus irgendwelchen staubigen Bibliotheksschinken ganz toll austoben kann, interessiert aber auch keinen. Kein Wunder, dass er lieber irgendwas mit Handarbeit macht, oder? Genau. Jetzt kann er es eigentlich kaum erwarten, endlich eigenes Können zu zeigen - und ein bisschen geldliche Freiheit zu genießen. Wie seine Eltern, Großeltern - und jetzt auch die große Schwester. Und dann schickt er Mairwen die Eismäuse, die sie immer so lustig findet und für seinen kleinen Bruder kauft er dann das hübsche Briefpapier. Und wenn er dann das nächste mal mit seinen Freunden in Hogsmeade ist, kann er auch endlich mal eine Runde Eisbecher übernehmen! Hauptsächlich aber wird er zuhause am Tisch mitreden können: Adieu "Was weißt du schon vom echte Leben?" und Ade "Verdien erstmal dein eigenes Geld, bevor du dich beschwerst"! Er träumt sich schon die große, fleißige Zukunft - und kann sich glücklich schätzen, nach den Sommerferien wieder auf Hogwarts festzusitzen: Die hitzigen, besorgten Diskussionen am Küchentisch, ob man ihm angesichts der winterlichen Anschläge in der Winkelgasse seinen Sommerschülerjob weiter erlauben kann, gehen so gänzlich an ihm vorbei. Bis zu den nächsten großen Ferien sind sie verdaut: So lange er seine Flohpulverration selbst bezahlt, soll er nur machen - es scheint ihm gut zu tun. So erwachsen wie beim letzten Besuch im Laden sieht man ihn sonst schließlich selten... 1978 Die Nacht mag kalt sein, aber ihm ist es nicht: Er muss noch nicht einmal den Mantel zumachen, so aufgeregt ist er. Wie lang hat er ihr jetzt schon schöne Augen gemacht? Hat ihr im Unterricht Zettelchen zugespielt, versucht, bei Teamaufgaben in ihre Arbeitsgruppe zu kommen, sich an Hogsmeade-Wochenenden bei ihr einzuklinken- stets mit ernüchterndem Erfolg. Kein Wunder: Selbst, nachdem sie vor einer Weile ihren Freund in den Wind geschossen hat, ist sie einfach Er weiß nicht, was es ist. Vielleicht hat der Wind einen altvertrauten Geruch hereingetragen, vielleicht ist in einer anderen Welt gerade ein Tag, den er im Kalender anstreichen würde, vielleicht war er einfach zu lange unbeschwert und die Wehmut bricht sich letztendlich doch wieder Bahn. Aber eines Morgens wacht er auf und spürt das Brennen in den Augen, den Kloß im Hals, den Seufzer in der Brust. Er schleicht sich nach draußen, ohne sie neben sich zu wecken. Die Vögel lärmen bereits, die Baumkronen rauschen gemütlich und selbst der Bachlauf scheint die neuen Sonnenstrahlen zu genießen. Es ist ein guter Tag, endlich Frühling, und es gibt viel zu tun. Heute geht es ihm stockend von der Hand, sein Kopf ganz woanders. Er schafft es trotzdem, das Dach ihrer dilettantisch geschusterten Hütte zu richten (auch, wenn er mehrere Anläufe braucht, seine Freundin ist sicherlich längst wach) - ohne irgendetwas in die Luft zu jagen, in Brand zu setzen oder in Froschregen zu verwandeln. Eigentlich ist es hier gar nicht so schlimm - wo auch immer hier ist. Und würde er nicht ab und an mit der tonnenschweren Gewissheit aufwachen, dass Hier jetzt Zuhause ist und Zuhause unweigerlich verloren, seine Freunde, Familie, Schulzeit, Zukunft- würde ihn dieses Wissen nicht ab und an versuchen zu ersticken, wäre das hier wundervoll. Aber was vor einigen Monaten- oder Wochen? Jahren? wer weiß das schon; Zeit ist hier so launisch wie das Wetter und die Gestalten auf der anderen Seite des Flusses, vor denen sie sich bis auf notwendigste Kontakte und Handel zu hüten versuchen - noch ein Abenteuer war ist jetzt... anders. Echt. Es hat seinen Glanz und seine Aufregung verloren, die Vorfreude wie die Panik. Das hier ist jetzt eben einfach ihr neues Leben. Eines, in dem es keine Eltern und Freunde gibt, keine Schule, kein Geld, keine Bewerbungen. Es gibt keine Vergangenheit und weiß der Henker, ob es eine Zukunft gibt. Aber es gibt das Hier und Heute und Jetzt. Es gibt das Mädchen, das er liebt, Wald und Wiesen voller Leben und alle Ruhe der Welt, sich doch noch mit seiner Magie anzufreunden und seinen Händen doch immer genug zu tun zu geben. Ruhe, die ihn immer seltener um den Verstand zu bringen droht. Es ist nicht schlimm, nur manchmal. In der Tat wächst er um die Fremde wie ein Baum um einen Zaun. Ein Splitter im Fleisch, der schon zu lange verweilt, um je gezogen werden zu können. Er vermisst das Radio und eine Kamera, vermisst, sein Leben mit Leuten zu teilen. Da ist nur sie - ist sie nicht genug? Meistens ist sie es. Sind es sie beide. Er bringt ihr bei zu fischen (Nana und Grandad und endlose Sommer an der irischen Küste seien Dank) und sie zeigt ihm, wie man die Magie zähmt wie ein wildes Tier. Ihr Haar duftet nach Blumenkränzen, in der faulen Nachmittagssonne geflochten, und seine Stoppeln werden langsam zu einem richtigen Bart. Aus Fremde wird Zuhause, die Erinnerungen schnell und schneller verblassend, verhallend. Aus Kindern, Jugendlichen, werden Erwachsene - und irgendwann Eltern. Dai hält den Zwerg im Arm, seine müden Augen nur mühsam offengehalten: Irgendjemand muss auf sie aufpassen, ihre angeschlagene Gesundheit und sein junges Leben, nicht wahr? Und wenn er ihnen nur eines versprechen kann, soll es das sein: Besser auf sie aufzupassen als es seine alte Welt geschafft hat. ???? - 1978 Seine Hände sind kalt und etwas klamm, ihm ist zu warm, obwohl der Morgen angenehm ist. Das blutjunge Mondgesichtchen, das aus wachen Äuglein zu ihm heraufschielt, bekommt trotzdem ein grinsendes Gurren, ein sanftes Lächeln. Er ist etwas steif mit der Kleinen, doch heute liegt es nicht mehr daran, dass sie so nach ihrer Mutter und ihrem Vater schlägt - und dabei ganz und gar nicht nach Dai. Er hält sie trotzdem fest und warm, sicher in seinen Armen. Er hat Angst, aber lieber würde er sich die Zunge abbeißen, als seine Miene etwas verraten zu lassen. (Nicht, dass es seine Partnerin nicht ohnehin spürt - weil sie ihn kennt, weil er für sie in jedem Sinne ein offenes Buch ist. Vor ihr könnte er nichts verheimlichen, wenn er wollte - aber warum sollte er wollen?) Das letzte, was sie heute brauchen, ist ein gestresstes Baby, einen panischen älteren Bruder oder eine von Sorgen zerfressene Jugendliche. Immerhin die älteren beiden kommen etwas nach ihm - Dai ist immer noch nicht sicher, was er erzählen wollen wird, wenn die Fragen kommen. Falls sie kommen: Er wüsste nicht, was schlimmer ist. Zurück zu kehren und niemanden mehr vorzufinden, der auf sie warten könnte - oder jedem mit angehaltenem Atem und einem großen Loch im Herzen zu begegnen. Nur ungern will er sein Herz offenbaren. Ein Herz längst ohne Loch: Zu lange ist es her, zu unklar die Erinnerung, verblasst und eingerostet das Gefühl des Vermissens. Rost, den der kommende Schritt schon seit Planungsbeginn langsam aber sicher absprengt, jeden Tag ein wenig mehr. Wenn er zu lange darüber nachdenkt - was er verpasst hat, was ihn erwartet, dass sich das nicht mehr Vermissen und sein eigenes Leben anfühlt wie Hochverrat - dann bekommt er keine Luft mehr, wird doch noch weinen. Und das geht auf keinen Fall. Den Schritt, in den sie vor so langer Zeit zu zweit regelrecht hineingestolpert sind, gehen sie heute zurück. Zu viert. Wissentlich, willentlich, absichtlich - gemeinschaftlich. "Das wird aufregend," verspricht er dem Jungen an seiner Seite, drückt ihm einen Kuss aufs Haar, während seine Jüngste ihre Fingerchen in seinem vergräbt, "freust du dich schon?" Der Kleine nickt, glaubt noch an das Abenteuer dahinter. Dai hofft, dass seine Große ihn nicht bei der Lüge ertappt, während sie sich aus der Umarmung mit ihrer Mutter schält. Ihr Anker. Ihm wird schlecht bei dem Gedanken, sie zurück zu lassen. Imbolc, Cétsamuin, Calan Awst, Calan Gaeaf - er wiederholt die Daten still. Daten, an denen sie sich sehen können, ganz bestimmt. Wenn der Schleier schon zwei mal für sie reißt, warum nicht wieder und wieder? So zumindest die Hoffnung: Aber wer weiß das schon? Immerhin reißen sie sie nicht aus ihrer Heimat, sagt er sich, sie hat ja sogar selbst darum gebeten, zu bleiben. Ein kleiner Trost für das besorgte Vaterherz. Er drückt das Bündel im Arm an seine Brust. Das Zeugnis allen Übels. Ihr bleiches Haar, ihre hellen Augen: Manchmal meint er, die fremden Züge in ihrem Gesicht zu ertappen. Aber sie ist die Tochter seiner Partnerin - und so lange sie bei ihm ist, ist sie auch seine. Und für sie müssen sie gehen. Müssen gehen, bevor der tatsächliche Mann in ihrem Blut Ansprüche geltend macht. Müssen die Fremde verlassen, die sie sich zu eigen gemacht haben - in ein Zuhause, das längst zur Fremde geworden sein muss. Natürlich hat er Angst. Natürlich bebt er und schwitzt, natürlich ist das Grinsen auf seinen Lippen steif, als er seine Älteste ein letztes mal umarmt, seine Augen feucht. Er erinnert sie mit brüchiger Stimme an Vollmonde und Wegkreuzungen, an Hexensteine und Eschenzweige. Und an ihre Zeiten: Imbolc, Cétsamuin, Calan Awst, Nos Calan Gaeaf. Er drängt sich an seine Partnerin, die ihm eines der Kinder von der Hand nimmt, sucht den Halt in ihren Augen. Es ist die richtige Entscheidung. Sie kriegen das zusammen hin. Wenn sie es als Teenager schaffen konnten - warum nicht auch jetzt als Eltern? Sie werden ihren Kindern die allerbeste, allerfreiste Zukunft bieten. Sie werden schon sehen. "Na dann," sagt er und atmet beherrscht durch, lässt den Blick in letztes mal über ihre Welt schweifen, bevor er wieder auf seiner kleinen Familie zu ruhen kommt. "Bereit?" 1978 Es ist alles nur ein bisschen viel, sagt er. Nicht, dass jemand groß gefragt hätte. Die einzigen, die fragen, sind die Heiler und die hängen ihm zum Hals raus - sie tun so als wäre er noch immer 16 (und wenn schon?), als würden sie den Bart in seinem Gesicht nicht sehen und seine Eltern erwachsener sein als er es ist (und wenn schon!). Außerdem wollen sie gar nicht hören wie es ihm eigentlich geht, sondern höchstens wie die Tränke oder Zauber anschlagen, die sie ihm antun. Sprüche, um herauszufinden, wo der Teenager steckt, der er war und Tinkturen, die ihn zum Vorschein bringen sollen oder zumindest irgendetwas über seinen Zwischenstopp offenbaren. Offenbarungen, die ihm nicht mal sein eigener Kopf gewährt, jede Erinnerung blank. The body keeps the score und ist damit auch der einzige: Er merkt es daran wie schnell ihm der Kopf zu platzen droht, wenn die ganzen Leute um ihn herumwuseln und das Stadtgetöse seine Zündschnur kürzt. Wenn er mit seiner kleinen Schwester im Garten sitzt und sie ihn an irgendjemanden erinnert, den er nicht benennen kann, während sie Blümchen zu Kränzen flechten, die er nie gelernt hat. Hogwarts ist nicht nur in weiter Ferne, weil er wieder in Wales sitzt. Zuhause sagen Eltern, die ihm kaum ins Gesicht sehen können und ihn nur ungern mit seinen eigenen kleinen Geschwistern allein lassen, während seine Großeltern hinter verschlossenen Türen mit den Heilern darüber zu sprechen versuchen, wie viele Fälle erwachsener Wechselbälger es in den Aufzeichnungen schon gab. Zuhause fühlt er eigentlich nur so richtig, wenn er daran denkt, seine Klassenkameradin im Hospital zu besuchen, weil sie noch nicht entlassen werden darf. Kann. Will, was weiß er schon. Er würde wieder nach ihrer Hand greifen wie er es das letzte mal getan hat, als sie noch zusammen einsaßen, und sich zu ihr setzen als wäre es das natürlichste der Welt. Dabei ist alles, was sie zusammenschweißt- ein schiefgelaufenes Date vor ein paar Tagen und eine ganz, ganz große Erinnerungslücke. Selbst, dass er sich in seiner Haut trotz allem richtig fühlt, trennt sie, scheint sie doch immer noch zu hoffen, dass irgendwo tief in ihrer Brust wirklich noch eine 16 Jährige gerettet werden kann. Dennoch verbindet sie zwei immer noch mehr als mit sonst allen anderen. Glaubt er zumindest, hofft er: Noch hat er die Zeit und die Freiheit nicht gefunden, sie nach seiner Entlassung wieder aufzusuchen, zu horchen, wie es ihr nun geht. Nicht einmal das hat man ihm gegönnt. Irgendwas muss man ja jetzt aber aus ihrer Situation machen, findet Dai - auch als einziger wohlgemerkt. Während die Heiler ihn gerne noch viel länger und öfter untersuchen und für diverse Diagnose- und Veränderungsexperimente einbestellen würden, seine Familie betrauert, wer er nicht mehr ist, versucht er wenigstens, den Boden unter seinen Füßen zu finden. Und natürlich auszuprobieren, wo seine neuen Grenzen liegen! Den Schülerjob in der Winkelgasse zumindest Teilzeit als "richtigen Job" aufnehmen? Klaro! Auch abends noch in aller Ruhe durch die Stadt streunern? Gar kein Problem. Die Kündigung an seine alte Schule schicken, weil sie ihn als "alten Mann" sowieso gerade nicht zurück wollen und er sich lieber einen Arm ausreißen als darauf warten oder gar hoffen würde, wieder Kind zu sein? ... auch das. Alles ganz vernünftige Erwachsenenschritte? Naja. Aber zumindest sind es seine, ganz eigenen, Schritte! Wie sich das eben für jemanden gehört, der offensichtlich nicht mehr Kind ist! Was die Zukunft stattdessen bringt? Ach, weiß er doch auch nicht. Weiß ja nicht einmal, was die Vergangenheit gebracht hat! Weiß nicht, was eigentlich anders ist, anders als früher, anders als gewohnt - weiß nicht, ob welches Anders auch wirklich schlimm ist. Weiß eigentlich gar nichts. Nur: So, wie es war ist es nicht mehr. Kann es nicht mehr sein. Auch, wenn ihm das Herz dabei bricht, wenn er zu lange darüber nachdenkt. | |||||||||||||
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